VON VERTRAUTEN GESELLSCHAFTEN
In seiner Malerei feiert Martin Veigl die Poesie des Augenblicks. Die Ausstellung „Vertraute Gesellschaften“ des 1988 in Steyr geborene Künstlers ist eine Bestandsaufnahme seines aktuellen Schaffens und versammelt Arbeiten der letzten vier Jahre.
Als Motive seiner farbintensiven Werke wählt Veigl Momente des Alltäglichen. Seine Kunst erzählt von Situationen, die jeder von uns in ähnlicher Weise bereits erlebt haben könnte. Teils stark fragmentiert malt der Künstler Bilder von Menschen – mit Blick in ihre Smartphones oder im Gespräch vertieft, anonyme Rückenansichten, Hände und Gesichter – die die Betrachter:innen in ihrer alltäglichen Erfahrungswelt abholen. Fotografien dienen Veigl als Ausgangspunkt seiner bewegten Bildkompositionen, in denen sich die Kraft zwischenmenschlicher Dynamiken mit der Anonymität des Individuums verdichtet. Diese figurative Bildsprache konfrontiert Veigl mit einem sinnlichen Spiel aus Farbe und Form, indem er einen gestisch expressiven Farbauftrag als Stilmittel einbindet. Pastelltöne, wie Beige und Ocker, Rosa und Violett, ergänzt von Blau-, Grau- und Grüntönen gehören zu seinen bevorzugten Farben.
Immer wieder laden bewusste Leerstellen im Bild die Betrachter:innen dazu ein, die eigene Imagination spielen zu lassen. Dies gibt Veigls Werken einen fast skizzenhaften Charakter, dessen Leichtigkeit den intensiven Malprozess hinter jeder Arbeit vergessen lässt. Auch der Zufall spielt eine wichtige Rolle im Schaffensprozess des Künstlers, der sich in seinen Kompositionen vom spontan gesetzten Pinselduktus leiten lässt – ein stetes Ringen aus Abstraktion und Figuration, das in prozesshaften Überlagerungen auf der Leinwand spürbar wird. Ebendies verleiht Martin Veigls Kunst ihren großen Wiedererkennungswert, der die Qualität seiner Malerei kennzeichnet.
Sarah Jonas
Lentos Kunstmuseum, 2024
What about Pictures
Seit Menschen bildend gestalten können, hinterlassen sie plakative Artefakte in ihrem Umfeld als Kommunikationswege von Erlebtem bis zu Gedachtem, die allgemein Interesse erwecken. Es fasziniert die jahrtausendelange Genese der Bilder mit Langzeitwirkung. Sie wurden bis in das frühe 20. Jahrhundert primär an Qualitätskriterien gemessen, die von stringenten Reglements aufgestellt waren, bis deren Kunstbegriff mit beginnender Moderne einen nachhaltigen Wandel erfuhr. Zu den Kunstmerkmalen der historischen Epochen zählte über Jahrtausende auch der Naturalismus in unterschiedlichen Gradstufen, da das Darstellungskönnen das vorrangige Beurteilungskriterium war. Mit ihm verband sich auch der Formbegriff bis zu dem Zeitpunkt, als ihn die Moderne im Zuge einer kompromisslosen Wahrheitssuche ins vorübergehende Nichts steuerte. Es war ein Auflehnen gegen die gestaltete Form, deren Ästhetik und ihre schöngeistigen Mitteilungen. Aus heutiger Sicht kann aber festgestellt werden, dass kein endgültiger Bruch stattgefunden hat, sondern dass Form und Farbe neu gesehen wurden und in markanter Veränderung begriffen waren, nicht mehr als feststehend, sondern als selbstdynamisch und prozesshaft. Zudem hatte die im 19. Jahrhundert aufstrebende Fotografie als akute Konkurrentin im Feld der sich rasant perfektionierenden Wiedergabe der Wirklichkeit mitgeholfen, die Bilder auf den Highway der Abstraktion zu steuern. Letztere erhielt ideelle und politische Untermauerungen und ließ in ihrer Zugkraft in Richtung Postmoderne nur allmählich nach. Unter diesen Prämissen musste sich die Gegenständlichkeit erst neu behaupten und einen zeitgemäßen Stand erreichen. Im Sinne des Stilpluralismus ist sie somit ein herausforderndes Kontinuum auch der Moderne und der Postmoderne.
Der in Österreich und in den Niederlanden ausgebildete Martin Veigl zählt eindrucksvoll zu diesen neuen Gegenständlichen der zeitgenössischen Malerei. Er hat die Kontroverse von Fotografie und bildender Kunst hinter sich gelassen und setzt den fotografisch festgehaltenen fruchtbaren Moment in eine formaffine und farbig dynamisierte Bildmitteilung um. Er hält in unmittelbarer Nahsicht Personen in Ereignis-Kommunikation fest. Sie treffen sich wie zufällig auf dem Bildträger und werden, frei von Inszenierung, zu wirkungsvollen Protagonist*innen, die die Betrachtenden in ihren Bann ziehen. Letztere können sich zwanglos miteinfinden. Spannung und inhaltliche Öffnung wird dadurch erzeugt, dass das Ereignis außerhalb der Bildfläche bleibt. Wir sehen also nur die Reaktionen, nicht deren Ursache. Somit ist nicht alles festgeschrieben. Das Gesehene darf weitergedacht werden. Oft wenden sich die sehr direkt charakterisierten Menschen ab, tragen schützende Sonnenbrillen und agieren untereinander. Sie liefern keine gewollten Posen ab, machen uns nichts vor. Sie erscheinen, wie sie sind. Ferner agieren sie dreidimensional in nebulosen Farbflächen, die Raum-Züge in sich tragen. Mit ihnen gewinnen zwischen den gegenständlich konkretisierten Bildbereichen formsprengende gestische Pinselstriche an Terrain – ein Gestaltungskriterium, das die form in progress durch die Bipolarität von geschlossener und offener Form anspricht. Sie ist dem beschleunigenden Wandel geschuldet.
Veigl zoomt in diesem Kontrastprogramm besonders Arme und Hände heran, die in mancher Position große kunstgeschichtliche Vorbilder umbauen. Ein intensiver Blick Veigls fällt dabei auf die Haut der meist sommerlich gekleideten Personen. Sie glänzt an erhabenen Stellen im sonnigen Bildlicht, das von ihr weiterwandert auf Haarsträhnen und Kleider, bis sich helle Spektralfarben zu den oben angesprochenen ausbrechenden Farbströmen verselbstständigen.
Die inhaltlich und formal aufgeladenen Bildkompositionen monumentalisieren sich durch ihre Unmittelbarkeit und vertreten mit gezielt gewählten Alltagsszenen als Gegenwartsbezug ein Interagieren von gestalteter Form und autonomer Farbe, die miteinander und gegeneinander antreten und gemeinsam auf subtile Weise Originalität regenerieren.
Margit Stadlober
Kunstgeschichte Institut, Karl-Franzens-Universität Graz, 2023
entrückt
Die Bildwelten des Österreichers Martin Veigl, 1988 in Steyr geboren, zeigen uns fotorealistische Körperansichten seltsam auf sich fokussierter Menschen. Flaneure, die nicht selten wie ferngesteuerte Tagestouristen wirken und die trotz ihrer Zusammenkunft im Bilde in eigentümlicher Weise völlig isoliert agieren. Ihre Augen verbergen sich hinter Sonnenbrillen, sind verschlossen oder wie in Gedanken versunken nur halb geöffnet. Manchmal erkennt man erst gar keine Physiognomie, wenn Veigl uns die Charaktere in Überschneidungen oder gänzlich hinterrücks zeigt. Nicht die Inszenierung eines besonderen Augenblicks ist hier das Thema, sondern ein zufälliges Kommen und Gehen samt beiläufiger Gesten, was hier vom Künstler im Bild festgehalten wird. Fast wirkt es so, wie wenn der Maler für die Vorbereitung seiner Kompositionen beliebige Schnappschüsse en passant von Menschen in der Menge fotografisch aufgenommen hätte, die sich in ihrem augenblicklichen selbstversunkenen Tun gänzlich unbeobachtet wähnten. Verdichtet zu einem Bildgefüge wirken die Dargestellten wie eingefroren in ihrer unscheinbaren Gestik und Mimik. Trotz ihrer sommerlicher Kleidung und dem demonstrativ dargestellten Müßiggang versprühen sie dennoch einen Hauch von Melancholie und Tristesse, wenn sie einsam und selbstbezogen in der Menge ihren Weg beschreiten. Doch das augenfälligste ist damit noch nicht gesagt. Veigl verzichtet komplett auf eine malerische Verortung des Geschehens, indem er seine Passanten vor reinen Farbflächen agieren lässt. Zusammen mit einem gestisch abstrakten Farbauftrag, der beinahe willkürlich an verschiedenen Stellen im Bild als Verfremdungseffekt aufscheint und dabei ganze Bildteile mit farblichen Eigenwert überfrachtet, wird die Szenerie nicht nur in Vorder-, Mittel- und Hintergründe unterteilt. Sie wird darüber hinaus zu einem der Realität entrückten Zerrbild, ohne dass dies die Flaneure in ihrem Tun ernsthaft stören würde. Zurück bleibt ein Eindruck ästhetischen Unbehagens, in dem sich trotz der durch die Farben vermittelten Leichtigkeit und Sorglosigkeit tiefe Brüche in die Realität einschreiben. Durch das partielle Auflösen der Formen wird die konkrete Gegenwart zunehmend zur nebulösen Vergangenheit.
Veit Ziegelmaier
Kurator, München, 2022
Das verführte Auge oder die List der Malerei
Auf Tuch- bzw. Hautfühlung in hartem Ausschnitt erfasst: Arme, Beine, Gesichter, sonnenbeschienene junge Körper am Strand. Legeres Outfit: Basecaps, Shirts, Sneakers, Sonnenbrillen. Mal aufgekratzt, mal in eine bestimmte Richtung schauend, mal gelassen dreinblickend, im Gespräch begriffen oder ‒ wie so häufig heutzutage ‒ ins Mobiltelefon vertieft. Leicht niedergedrückt vom bleiernen Gewicht hoher Temperaturen, was den Bewegungsdrang ein wenig hemmt. Ein sommerliches Genrebild unserer Tage, erfasst aus der Nahperspektive.
Man hockt eng nebeneinander oder ist in kleineren Gruppen unterwegs. Dem Augenblick hingegeben, scheinbar ziellos, offen für alles, ohne Förmlichkeiten: Szenen, wie sie hierzulande gern als „mediterran“ bezeichnet werden, obwohl gerade in südlichen Ländern auf gepflegte Umgangsformen geachtet, auf bella figura Wert gelegt wird. Aber davon ist hier nichts zu spüren. Das Leben als leichtes Treiben abseits der Norm, weit entfernt von Tagesordnung und Terminkalender. Aus dem normierten Alltag in die formlose Freizeit ausgewichen, sucht man doch wieder Beschäftigung.
Es scheint, als wolle Martin Veigl auf seinen Bildern eine Bühne dafür bereiten: Sommervergnügen mit Zuschauern. Ein sich alljährlich wiederholendes Schauspiel mit vielen anonymen Akteuren, uns allen so vertraut und ‒ gerade in Zeiten der Pandemie ‒ so teuer geworden. Was bislang als zwangloser Moment gedankenlos hingenommen wurde, steht jetzt unter dem Vorbehalt des Risikos und ist zu einem wertvollen Gut geworden.
Der Farbauftrag ist flüssig, nie pastos-plastisch Autonomie einfordernd, dafür sein Gewicht in die optische Waagschale werfend. Und dann geschieht es: In die Lektüre der Pinselführung vertieft, erlebt das Auge unversehens einen Schock. Es gibt eben keine Bühne, keinen Raum. Die scheinbar intakte, dem Sehsinn schmeichelnde Harmonie wird zwar nur stellenweise, dafür aber umso empfindlicher gestört: Die hintersinnig insinuierte Geschlossenheit des Augeneindrucks ist aufgehoben. In lavierender Maltechnik ausgeführt, legen sich Leerflächen wie Wolken zwischen die eng beieinanderstehenden, ganz sich selbst hingegebenen Menschengruppen: Einmal dringen sie in die Körper regelrecht ein oder legen sich wie eine Farbflut über Körper und Kleidung, sodass nur die isolierten Köpfe herausschauen. Man kennt das von Ölstudien aus dem tiefen Fundus der kunsthistorischen Vergangenheit. Aber was dort ein rein technisches Isolierverfahren war, ist hier zu einem bildkünstlerischen Prozess geworden, der jeden problemlosen Oberflächenkonsum unmöglich macht: Wie ein Lösungsmittel scheinen Leerstellen die Farbsubstanz zu absorbieren oder sie umgehen diskret die leinwandfüllenden, sich mächtig in den Vordergrund schiebenden Körper und bilden einen unauffälligen Fond, ganz wie der Sand, der sich so wohlig mit dem Fuß durchpflügen lässt. Wohin man auch schaut: Überfülle durch Körper, aber Leere um diese herum oder gar auf deren Kosten.
Der Künstler wird zum Spielverderber, die Malerei zur Regelbrecherin: Zu behaglichem Nachvollzug einer Illusion auffordernd, zerstört sie diese Illusion mit malerischen Mitteln ‒ das ist die List der Malerei. Martin Veigl lässt sich nicht vorschreiben, eine für das Auge im Bild dargebotene Illusion bruchlos zu vervollständigen, um seinem Publikum einen simplen Genuss zu offerieren. Es kommt zum Bruch ‒ zwar nur im Bild, aber die Herausforderung bleibt.
Gemalt wird für das Auge, aber vorrangig, um eine Denkleistung anzustoßen: Neben dem abrupten Ausschnitt, der schon an sich eine Provokation darstellt, setzt Martin Veigl das Mittel der Auslassung ein. Damit fährt er dem verführten Auge des Betrachters, das sich schon ganz auf seine Souveränität verlassen hat wie mancher Autofahrer auf sein Navi, tüchtig in die Parade: Es landet zwar nicht im Teich, aber in einer Leerstelle, ja im Nichts. Ganz sommerlich gestimmt, hatte es sich auf einen netten Aufenthalt am Strand gefreut: pure Augen-Lust. Aber nun muss es einsehen, einer neuen, ganz eigenen Variante der schon sehr alten Geschichte der Augen-Täuschung aufgesessen zu sein: Ceci n’est pas une plage.
Malerei ist mehr als ein in der Feuilletonkolumne ausgetragener Streit zwischen abstrakt und figurativ. Kontroverse war gestern. Was bleibt, ist die Malerei: Seit jeher hat sie das Auge gereizt, ihm geschmeichelt, es aber auch mit kleinen wie großen Denkaufgaben konfrontiert. Man malt mit der Hand und sieht mit dem Auge – aber beides wird vom Gehirn gesteuert.
Ulrich Becker
Joanneum Graz, 2020
Der malerische Erinnerungsraum
„Ich glaube, jeder fängt so an, sieht irgendwann Kunstwerke und möchte ähnliches machen. Man möchte das, was man sieht, was überhaupt da ist, begreifen und versucht, es abzubilden. Später merkt man dann, dass man die Wirklichkeit gar nicht darstellen kann, dass das, was man macht, immer nur sich selbst darstellt, also selbst Wirklichkeit ist.“ (Gerhard Richter)1
Foto: Daniel Gerersdorfer
Wie positioniert sich die Malerei in einer Welt, in der sich die Rolle des Bildes grundlegend gewandelt hat? Lange Zeit hatte die Malerei das Monopol auf das große, farbige und wirkungsmächtige Bild. Doch dann wurde sie von der Fotografie als neues Leitmedium abgelöst. Dennoch blieb sie bis weit in das 20. Jahrhundert das unumstrittene Hauptmedium des künstlerischen Ausdrucks. In den letzten Jahrzehnten hat sich das aber nachhaltig verändert. Mit weitreichenden Folgen. Die hegemoniale Situation des Mediums zwang den Künstler, „mit jedem Werk auch Repräsentationsansprüche zu erfüllen“, so Robert Fleck, mit der Entlassung der Malerei aus diesem traditionellen Status habe sich das Medium möglicherweise mehr noch als durch die Revolution der klassischen Moderne von Bindungen und externen (etwa gesellschaftlichen) Zwängen befreit. Die Malerei als „minderheitliches Medium“ besitze keine gesellschaftliche Begründung mehr, nur noch eine künstlerische.2 Die neue Rolle der Malerei kann dabei durchaus als Chance gesehen werden, die in der Vielfalt und streckenweise Unabhängigkeit von den nunmehr dominierenden Bildtypen zum Ausdruck kommt. Der Maler kann in dieser Situation frei entscheiden, in welches Verhältnis er sich mit seiner Kunst zur zeitgenössischen Bildwelt, zu den anderen künstlerischen Medien und zur Tradition der Malerei begibt. Das Schöne dabei ist: heute ist alles in der Malerei möglich und erlaubt, von einer gestischen Abstraktion über monochrome Farbgeschichten bis zu einer erzählerischen Figuration mit gesellschaftskritischem Anspruch.
Martin Veigls Malerei scheint ein gutes Beispiel für diese These zu sein. Der Künstler feiert die Malerei, ihre illusionistische Kraft ebenso wie die abstrakte Geste, er liebt eine figurative Bildsprache ebenso wie das sinnliche Spiel mit Farbe und Form. Dabei ist es eine Kunst, die unsere Gegenwart und digitale Bildwelt bzw. -sprache mitdenkt und immer wieder durchklingen lässt. Viele von Veigls Bilder zeigen Alltagsszenen, meist im städtischen Umfeld und ganz nah an uns herangezoomt: Passanten im urbanen Raum, junge Menschen – vermutlich Touristen oder Studenten – in sommerlichen Kleidern, beratschlagend, den Blick auf das Handy gerichtet, die Straße entlang gehend und oder auf etwas wartend. Dicht zusammengedrängt betrachtet sie der Künstler ausschnitthaft und schräg von oben, oder er befindet sich mitten im Gedränge. Die Protagonisten sind so nah am Bildrand gruppiert, dass man bisweilen glaubt, sie treten jeden Moment aus der Leinwand heraus. Uns nehmen sie dabei nicht wahr, scheinen sie doch ganz in ihrer eigenen Welt zu leben. Veigl ist ein präziser Beobachter, er hat ein feines Gespür für die Posen und Gesten des Alltäglichen, die oft durchaus etwas Theatralisches haben – eine Werkserie trägt bezeichnenderweise „Urban Theatre“ (städtisches Theater) als Titel. Die Menschen erscheinen wie auf einer Bühne, sind in ihrer außergewöhnlichen Farbigkeit wie mit Scheinwerfern beleuchtet – ein warmes, sommerliches Licht mit seinen typischen harten Schlagschatten. Das Kolorit besteht aus vielen Gelb- und Ockertönen, Fleischfarben von Beige bis Rosa, daneben Smaragd, ein helles Blau oder auch verschiedene Grauschattierungen.
Veigls Handschrift, seine Farben und Formen sind unverkennbar, der Wiedererkennungswert der Arbeiten ist hoch. Der Pinselstrich ist bisweilen gestisch, aber gleichzeitig – wie die dargestellten Figuren – auch ruhig und konzentriert, harmonisch und ausgewogen. Dem Künstler gelingt es, sich rasch von seinen fotografischen Vorlagen zu lösen und zu eigenständigen Bildideen zu finden, er lässt sich malerisch treiben, die Farben und Formen ihr eigenes Spiel treiben. Die künstlerische Sicherheit hat in den letzten Jahren stetig zugenommen, der Mut zur Abstraktion ist größer geworden, wobei das kein stringenter, linearer Prozess ist, auf ein klar benennbares Ziel ausgerichtet. Immer wieder verselbstständigt sich die Malerei, emanzipiert sich von der gegenständlichen Form, sucht nach rein malerischen Lösungen. Es ist ein Malen zwischen aktiv sein und nur mehr reagieren, was die Malerei verlangt, sobald sie sich verselbstständigt und das Bild für sich beansprucht. So legen sich geschwungene Farbflächen mit lockerer Geste über manche Figuren und reklamieren ihren gleichberechtigten Status gegenüber der Figuration (ist es Zufall, dass hier manchmal Handys übermalt wurden?). Die Spuren des Malvorgangs, wie erkennbare Pinselstriche und Übermalungen, lassen den figurativen Bildgegenstand bisweilen auch hinter den Malakt zurücktreten. Dann, in anderen Bildern, ist die Gegenständlichkeit wieder selbstbewusster und stärker ausformuliert und nur Details beginnen sich fleckenartig aufzulösen.
Die gegenständliche Welt ist als Ausgangspunkt der Malerei von Bedeutung, doch wichtiger als die Frage, was dargestellt wird, scheint wie etwas gemalt ist. Veigl zeigt eindrücklich, dass alles gemalt werden kann, wenn man es nur gut malen kann. Körper und Gegenstand dienen ihm als Versuchsfeld für eine Malerei, die mit Farbe und Form, Fläche und Raum poetisch wie sinnlich eine neue Wirklichkeit erschaffen kann. Malerei ist ja nie Abbild von Wirklichkeit. Im 19. Jahrhundert wurde sie in der Aufgabe der Dokumentation von Realität durch die Fotografie abgelöst (wobei natürlich auch diese keineswegs objektiv ist). Das Interesse verlagerte sich vom Motiv auf die Malweise. Cézanne oder Manet fassten das Bild nicht mehr als Fenster zur Welt auf, auf der ebenen Fläche wird kein dreidimensionaler Raum vorgetäuscht. Das Bild ist vielmehr ein zweidimensionales Feld, in dem die Ordnung von Formen und Farben relevant ist – eine parallele Realität zur Welt und nicht deren Abbildung. So auch bei Veigl: Er will nicht die Illusion von Realität schaffen, sondern weiß um das Medium der Malerei und erschafft seine eigene Wirklichkeit. In dieser braucht dann nicht alles ausformuliert zu sein, vieles kann auch nur angdeutet werden, ja darf gar nicht zu genau gemalt sein, um die Kraft und Ausdrucksstärke zu behalten. Die Balance zwischen Vernachlässigung und Sorgfalt ist entscheidend. Dem Künstler gelingt es – und das ist eine große Qualität seiner Malerei – den entscheidenden Moment zu erkennen und rechtzeitig mit dem Malen aufzuhören.
In den neuesten Arbeiten – Malereien wie auch Zeichnungen – mit dem Titel „overflow“ ist die Figur nur mehr eine verschwommene Erinnerung. Veigl versucht in seinem künstlerischen Ansatz weniger, den Gegenstand auf das zentrale Wesensmerkmal zu reduzieren (wie es z.B. die abstrahierenden Maler Josef Mikl oder Alois Riedl bisweilen tun), sondern ihn zu verzerren und fragmentieren, ihn aufzulösen und neu zusammenzusetzen. Inspiriert von vielfältigen Glas- und Wasserspiegelungen entstehen überraschende Farbflecken und -wolken in einem für den Maler typischen Kolorit oder auch zarte, sich überlagernde und überlappende zeichnerische Strukturen und Muster. Veigl schöpft auch hier Inspiration aus seinem Umfeld, seinen Interessen, seiner Wahrnehmung der Welt – einer Welt, die sich im Umbruch befindet, in der vieles nicht mehr greifbar und sich aufzulösen scheint. Er erschafft eine offene Malerei, atmosphärisch dicht, in der die Figuren kaum oder nicht mehr erkenn- und fassbar sind, die gegenständlichen Reminiszenzen aber sehr wohl spürbar bleiben. Dabei erfährt der gesehene oder imaginierte Augenblick durch das Einfangen und Einfrieren auf der Leinwand einen über den Moment hinausgehenden ästhetischen Wert. Die Malerei entschleunigt. Der Leipziger Künstler Neo Rauch hat das einmal folgendermaßen formuliert: „Der Grundcharakter des Malens, dem ich mich verschrieben habe, besteht darin, dass man über eine bestimmte Situation einen Bann ausspricht oder verhängt. Man spricht ja auch davon, etwas ‚auf die Leinwand zu bannen‘. Das heißt, ich bringe eine Situation zur Ruhe, verhänge den Bann der Malerei über sie. Dadurch erlange ich Macht über die geschilderten Zustände, über den Text des Bildes (…), und die Malerei wirft sich dann auf den Wirtskörper dieses Textes und verleibt ihn sich ein. Das ist das enorme Potenzial der Malerei…“3 Das ist auch das enorme Potential der Arbeiten von Veigl. Er bringt einen (alltäglichen) Moment zur Ruhe und hält ihn durch seine Malerei fest, transformiert ihn zu etwas Neuem. Gerade in unserer multimedialen, hektischen Zeit, in der wir täglich von tausenden Bildern bombardiert werden, die morgen schon wieder nichtig sind, ist dies das Schöne an Malereien wie jene von Martin Veigl: Sie bleiben bestehen und können über den Augenblick hinaus wirken und erfreuen.
1.) Gerhard Richter, Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2008, S. 59.
2.) Robert Fleck, Die Ablösung vom 20. Jahrhundert. Malerei der Gegenwart, Passagen Verlag, Wien 2013, S. 72, 74.
3.) Neo Rauch zit. nach: Rosa Loy und Neo Rauch im Gespräch mit Günther Oberhollenzer, in: Rosa Loy und Neo Rauch. Hinter den Gärten, Ausstellungskatalog Essl Museum, Klosterneuburg / Wien, Prestel Verlag, München 2011, S. 190.
Günther Oberhollenzer
Kurator, Landesgalerie Niederösterreich, 2019
Das Leben ist ein Stracciatella-Eis
Martin Veigl, Maler des urbanen Flows, zeigt in der Galerie Gerersdorfer seine „Musterstücke“. Herumwuselnde Menschen, die bestimmt nicht alle im selben Haushalt wohnen und die keinerlei Mindestabstand zueinander einhalten, sondern sich einfach ganz normal verhalten und noch nicht „neonormal“. Manche fassen sich sogar ungeniert ins Gesicht, womöglich ohne sich vorher 30 Sekunden lang die Hände gewaschen zu haben. Man könnte fast nostalgisch werden (oder neidisch), wenn man sich diese sonnigen Bilder in der Galerie Gerersdorfer anschaut, die der Martin Veigl noch in der „alten Normalität“ gemalt hat. Vom typischen Treiben im öffentlichen Raum, auf den Plätzen, auf der Straße. Und „typisch“ ist ja offenbar inzwischen genauso relativ wie die Zeit.
Technik: Öl und Licht auf Leinwand. Denn irgendwie muss der 1988 im oberösterreichischen Steyr geborene und mittlerweile in Niederösterreich lebende Maler es geschafft haben, das Sonnenlicht in seine antidepressiven Farben mit hineinzumischen. (Nicht, dass die im Finstern leuchten würden und man die urbanen Szenen in der Nacht deshalb immer verhängen müsste, weil man sonst nicht schlafen könnte. Oder man es ohne Sonnenbrille bei den Gerersdorfers gar nicht aushielte vor lauter Stimmungsaufhellung.) Der Sommer währt ewig (Veigl: „Im Sommer ist das Licht so theatralisch“), nie regnet’s, und auf den Leinwänden herrschen gefühlte 40 Grad. In Wahrheit sind’s aber natürlich sogar 360 – wenn man die vier rechten Winkel zusammenzählt. Viel nackte Haut in praller Sonne also, Schatten spenden höchstens ein paar Schirmkappen.
Irgendwas stimmt da trotzdem nicht. Genau: keine Handys! Beziehungsweise hat der Veigl sie unsichtbar gemacht. Oder sie den Leuten kurzerhand unter den Wischgesten wegstibitzt. „Wie ein Professor einmal gesagt hat: Das ist wie in der Zauberei. Man kann das Kaninchen aus dem Hut holen oder verschwinden lassen.“ Und SEINE Kaninchen sind anscheinend die Handys (unter anderem), die aus den Leuten „Smombies“ machen. Smartphone-Zombies. Umherwandelnde lebende Tote. Als Maler verfügt er ja schließlich über einen Zauberstab, einen mit Borsten, und mit dem kann er nach Lust und Laune Dinge malen, die da sind, die NICHT da sind oder etwas NICHT malen, das eigentlich da wäre. Die Fotos, die ihm dabei als Inspirationsquelle dienen, macht er übrigens konsequenterweise nicht mit der Handykamera, er nimmt lieber eine „richtige“.
Ausgesetzt im Swimmingpool-Blau
Mitunter liegt die Sehenswürdigkeit gar außerhalb des Bildes. Jedenfalls richtet sich die Aufmerksamkeit der GEMALTEN Schaulustigen gern auf eine offensichtliche Attraktion dort draußen (auf einen Straßenkünstler?), oder der Maler selbst wird auf interessante „Nebensächlichkeiten“ aufmerksam wie auf den Rhythmus von Armen, Beinen, entrückt die Städter überhaupt aus dem Alltagsgrau in eine pittoreskere Umgebung, in pure Malerei, in der sie sich teilweise auflösen oder aus der sie plötzlich auftauchen. Setzt sie am Strand oder in der Wüste aus (farblich, in sandigem Ocker und im hitzigen Gelb) oder im kühlenden Swimmingpool-Blau, doch niemals im Grünen. „Es gibt eben Farben, die mir liegen, mit den andern kummt nix raus“, gesteht er, der Veigl. Und: „Aufhören soll ma, wenn’s am schönsten is.“ Was? Er will zum Malen aufhören? Nein, eh nicht. (Wär schad.) Bei jedem Opus aufs Neue muss er allerdings den richtigen Zeitpunkt erwischen, wann er den Zauberstab wieder weglegt. Seine Bilder sind nämlich schon fertig, BEVOR sie „fertig“ sind. Und nicht erst, wenn sie voll sind. Die stecken voller kinetischer Energie, alles ist quasi noch im Fluss, die Bewegung noch nicht abgeschlossen. Angeregt unterhalten sich figurativer Realismus und abstrakte Geste miteinander (in Gebärdensprache sozusagen), bis sich die festen Körper in der Serie „Overflow“ gleich komplett verflüssigen, ihren Aggregatzustand ändern, nachdem der Künstler seine anonymen Modelle ertränkt hat. Okay, es handelt sich um Spiegelungen im Wasser. Oder in Glasscheiben.
Überall spürt man die Lust am Malen. Dass Malen etwas Sinnliches ist. Und so mancher Titel lässt erahnen, woran der Martin Veigl vor seiner Staffelei, in der Einsamkeit seines Ateliers, WIRKLICH denkt: ans Essen. „Chocolate Chip“: Den „Urban Flow“, der sich bei ihm als dynamischer Farbfluss zu materialisieren scheint (die Flut der Bilder und der Farbe), hat er sich da als Eis vorgestellt, „als Stracciatella-Eis, und die einzelnen Personen san die Schokoladensplitter“.
Und? Hat die Corona-Normalität seine Kunst verändert? „Der Leerraum, der ist präsenter.“ Wird man auf seinen Bildern in Zukunft Masken tragen? „Das mit den Masken is ungefähr so wie mit den Handys. Die möcht i ned draufhaben.“ Dann wird er wohl wieder seinen Zauberstab schwingen müssen.
Claudia Aigner, 2020
Mediale Entgrenzungen
In Martin Veigls Arbeiten wird Fotografie nicht einfach in Malerei übersetzt. Vielmehr durchdringen die beiden Medien einander. Während der Fotorealismus die Übersetzung von einem in das andere allenfalls in Format und Oberflächenhaptik verfremdet – wobei Letztere schon selten gewollt sein dürfte –, seinen stärksten Witz aber aus einem Modus nobilitierender Selbstversklavung zieht, wird das Fotografische in Veigls Transpositionen dem Malerischen förmlich ausgeliefert, von ihm zerstückelt, ohne dass dabei die Bilder ihre Ganzheitlichkeit einbüßen müssten.
In der Serie Potpourri wird Figürliches stets unvermittelt, aber in gezielten Schnitten von gestisch-abstrakten Passagen oder dem rohen Bildträger durchsetzt, nicht aber verletzt. Den Figuren liefert die eingestreute Abstraktion vielmehr einen tragfähigen Grund, der auch verschmilzt, was ursprünglich aus unterschiedlichen Bildquellen stammt. Aus den rein malerisch verknüpften Teilen ergeben sich fiktive Szenarien, deren Komposition durch die zentrifugalen Kräfte der figural umgesetzten Positionen, Blick- oder Bewegungsrichtungen, die nach allen Seiten aus den bildlichen Zusammenhängen hinaus verweisen, dynamisiert werden. Flüchtigkeit kennzeichnet die Arrangements, Anonymität die darin handelnden Personen, welche in Kleidung und Accessoires passend zu ihrer Vereinzelung wie Touristen anmuten.
Im neuesten Zyklus Overflow lässt Veigl das Figürliche ganz im Abstrakten aufgehen, legt damit den Fokus auf die Charakteristik seiner Malerei als fortwährendes Strömen und Ineinanderfließen. Die Malerei wird zur Widerspiegelung ihrer selbst. Es verwundert nicht, dass diese Bilder wie Abbildungen flüssiger, reflektierender Oberflächen wirken. In beiden Werkblöcken wird Transitorisches im Moment gebannt – ein Umstand, der den Bildern schaden würde, verhielten sich die fetzig eingestreuten Teile nicht so freundlich dem vorübergehend Instabilen gegenüber, sind sie doch in eine Pinselschrift gebettet, die – kontrolliert und doch fluid – selbst als Strom der Ereignisse anzusprechen ist.
Ulrich Tragatschnig, 2019
Zwischen Figuration und Abstraktion
Vernissage: Martin Veigl – Urban Theatre, Galerie Gerersdorfer, am 14.09.2016;
Fotos: Daniel Gerersdorfer
[…] Ich kann mich noch gut erinnern, wie meine Kollegen und ich Veigl in seinem Atelier in Haag besuchten. Die Malereien haben mich auf den Abbildungen noch nicht restlos überzeugt und umso neugieriger war ich, sie dann im Original zu sehen. Ich wurde nicht enttäuscht, ganz im Gegenteil. Sie hatten eine frische malerische Kraft, die mich völlig für sich einnahm – eine Qualität, die so natürlich nur vor den Originalen erfahren werden kann. Das ist immer wieder das Schöne an der Malerei: eine Abbildung kann ihr zwar nahekommen, ihr aber nie ganz gerecht werden.
Veigl hält in seinen Bildern Alltagsszenen fest, meist im städtischen Umfeld: Passanten im urbanen Raum, junge Menschen in sommerlichen Kleidern, beratschlagend, diskutierend, vermutlich Touristen oder Studenten, eine elegante Frau mit Sonnenbrille und einem Schoßhündchen im Arm haltend oder ein Eis essendes Kind, ganz nah herangezoomt neben einem Gewirr aus Taschen tragenden Händen. Vieles erscheint wie zufällig ist aber doch kompositorisch genau durchdacht. Der Künstler ist ein präziser Beobachter, ihm gelingt es, sich rasch von seinen (fotografischen) Vorlagen zu lösen und zu eigenständigen malerischen Bildideen zu finden. Eine Werkserie trägt den Titel „Urban Theatre“ (städtisches Theater). Eine gute Wahl. Denn die Menschen erscheinen oft wie auf einer Bühne, sie sind in ihrer außergewöhnlichen Farbigkeit wie mit Scheinwerfern beleuchtet. Grell und nahe am Bildrand, unmittelbar und ausschnitthaft treten sie uns entgegen. Das Kolorit besteht aus vielen Gelb- und Ockertönen, daneben Smaragd, oder ein helles Blau. Es sind Sommermotive – Veigl taucht seine Protagonisten in ein sommerliches Licht mit seinen typischen Schlagschatten. Daneben hat er ein feines Gespür für die Gesten und Posen des Alltäglichen, die oft durchaus etwas Theatralisches haben.
Die Handschrift ist unverkennbar, der Wiedererkennungswert der Arbeiten hoch. Die malerische Sicherheit in Form- und Farbgebung hat in den letzten Jahren stetig zugenommen, der Mut zur Abstraktion ist größer geworden. Die Grenzen zwischen Figuration und Abstraktion scheinen immer mehr zu verschwimmen. Veigl ist ein Künstler, der Inspiration aus seinem Umfeld, seinen Interessen, seiner Wahrnehmung der Welt schöpft. Einer Welt, die sich im Umbruch befindet, in der vieles offen, vielleicht auch nicht greifbar ist. So sind auch seine Bilder – eine offene Malerei wie gegenständliche Erinnerungsfetzen, die sich in abstrakte, atmosphärisch-warme Farbräume aufzulösen scheinen. Das ist kein stringenter, linearer Prozess, auf ein klar benennbares Ziel ausgerichtet. Der Künstler lässt sich malerisch treiben, lässt die Farben und Formen ihr eigenes Spiel spielen. Besonders schön gelingt ihm das in dem Bild „Konstruierte Masse #6“, gemalt auf einer rohen, ungrundierten Leinwand, auf dem sich die Farbe und der Pinselstich fast vollständig des figurativen Motivs bemächtigen. Spannend sind auch die Detailstudien, ein Arm, ein Hinterkopf, oder auch fragmentierte Körperteile, von einer Spiegelung inspiriert. Die Konturen sind aufgeweicht, der Übergang von Körper und Umraum ist fließend, durchlässig geworden. Nicht allein die physische, körperliche Erscheinung scheint für Veigl von Bedeutung zu sein, sondern auch die rein formgebende. Die gegenständliche Welt ist als Ausgangspunkt seiner Malerei von Bedeutung, doch wichtiger als die Frage, was dargestellt wird, scheint wie etwas gemalt ist. Veigl zeigt eindrücklich, dass alles gemalt werden kann, wenn man es nur gut malen kann. Körper und Gegenstand dienen ihm als Versuchsfeld für eine Malerei, die mit Farbe und Form, Fläche und Raum poetisch wie sinnlich eine neue Wirklichkeit erschaffen kann.
Damit ist ein zentraler Punkt benannt: Malerei ist nie Abbild von Wirklichkeit, sie ist Erschaffung einer eigenen Wirklichkeit. Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Malerei in der Aufgabe der Dokumentation von Wirklichkeit durch die Fotografie abgelöst. Das Interesse verlagerte sich vom Motiv auf die Malweise. Cézanne oder Manet fassten das Bild nicht mehr als Fenster zur Welt auf, auf der ebenen Fläche wird kein dreidimensionaler Raum vorgetäuscht. Das Bild ist vielmehr ein zweidimensionales Feld, in dem die Ordnung von Formen und Farben relevant ist – eine parallele Realität zur Welt und nicht deren Abbildung. So auch bei Veigl: Er will nicht die Illusion von Realität schaffen, er weiß um das Medium der Malerei und erschafft eine neue Wirklichkeit, eine eigene Realität. In dieser braucht dann nicht alles ausformuliert zu sein, vieles kann auch nur andeutet werden, ja darf gar nicht zu genau gemalt sein, um die Kraft und Ausdrucksstärke zu behalten. Dem Künstler gelingt es – und das ist eine große Qualität seiner Malerei – diesen Moment zu erkennen und rechtzeitig mit dem Malen aufzuhören.
Die Balance zwischen Vernachlässigung und Sorgfalt ist entscheidend. Es ist ein Malen zwischen aktiv sein und nur mehr reagieren, was die Malerei verlangt, sobald sie sich verselbstständigt und das Bild für sich beansprucht. Der malerische Akt ist dabei in seiner zeitlichen Dimension erfahrbar, durch das prozesshafte Überlagern und Überlappen einzelner Malschichten und -schritte wird der Schaffungsprozess in seinem kreativen Ablauf sichtbar. Auch Spuren des Malvorgangs, wie erkennbare Pinselstriche und Übermalungen, lassen den figurativen Bildgegenstand hinter den Malakt zurücktreten. Doch es ist keine Malerei des resoluten, expressiven Ausdrucks. Die Malerei ist, wie ihre dargestellten Figuren, ruhig und konzentriert, harmonisch und ausgewogen. […] (Auszug der Eröffnungsrede „Sommerfrische“ und „Urban Theatre“)
Günther Oberholenzer, 2016
www.liebezurkunst.com
Standbilder aus dem urbanen Leben
Atelier, Haag, 2014, Foto: © cédrickaub, Wien
Menschen eilen durch die Straßen, mit Taschen bepackt oder mit Hunden an der Leine. Sie scheinen im Stress zu sein oder zumindest in Gedanken, ihr Blick, wenn nicht hinter Sonnenbrillen versteckt oder auf das Smartphone gerichtet, geht in die Ferne. Es sind Alltagssituationen aus dem urbanen, öffentlichen Raum, Personen, die zwischen Haltestellen und Einkaufsstraßen ihren beruflichen und privaten Terminen nachgehen, inmitten vieler anderer und dennoch anonym und isoliert. Martin Veigl, 1988 in Steyr geboren, beschreibt in seiner Malerei die großstädtische Lebenssituation und hinterfragt die Rollenbilder unserer heutigen Gesellschaft. Mit fotografischem Blick, ausschnitthaft, schnappschussartig, emotionslos, fängt er die hektische Mobilität der Stadtmenschen ein, hält das rege Treiben für einen Augenblick an. In der malerischen Umsetzung kombiniert er souverän exakt ausgearbeitete Details mit frei gestalteten Partien, bei denen die Gestik des Pinselstrichs sichtbar bleibt, die Farbe ihre Rinnsale hinterlässt und unbemalte Leinwandstellen in die Gesamtwirkung integriert werden. Sowohl in der maltechnischen Umsetzung als auch in der koloristischen Auswahl hat der junge Maler, der zunächst Bildnerische Erziehung an der Kunstuniversität in Linz und seit 2012 an der Universität für angewandte Kunst in Wien Malerei bei Johanna Kandl und Gerhard Müller studiert, bereits seine eigenständige Handschrift und Bildsprache entwickelt. In der Werkserie „Faradayscher Käfig“ von 2014 geht Martin Veigl inhaltlichen und formalen Fragestellungen nach. Ein physikalisches Prinzip bewirkt, dass Personen im Inneren eines Autos bei einem Blitzschlag ungefährdet bleiben. Bei Veigl sehen wir ausschnitthaft in einen Wagen, durch Spiegelungen an den Scheiben wird Innen- und Außenraum auf eine Bildebene gebracht, reflektierende Flächen in abstrakte Malerei umgesetzt.
Karla Starecek
PARNASS, 2014
www.parnass.at
Perspektiven der Urbanität
In den vergangenen Jahren hat sich Martin Veigl auf ein spezifisches Genre konzentriert: der urbane Raum. Aus einem starken Bewusstsein für ein höchst aktuelles Sujet mit einer langen Tradition schafft er Gemälde, die sich mit spezifischen Alltagssituationen beschäftigen und sich in der Komplexität des urbanen Raums fokussieren. Die Darstellungen sind Momentaufnahmen, sind ein visuelles Feld großstädtischer Situationen. Kennzeichnend für diese Gemälde ist, dass sie eine typische moderne Erfahrung introduzieren: es ist, als ob sie fotografisch erfasst wurden. Martin Veigl interessiert nicht sosehr die Stadt an sich, sondern die Wahrnehmung der städtischen Vorgänge. Sein Bestreben ist das nüchterne Festhalten des Menschen im urbanen Raum. Für ihn ist die Stadt ein Genre, das um eine zeitgenössische Form fragt, die zugleich die zwischenmenschlichen Verbindungen oder die sozialen Rollenbilder inkorporieren kann.
Veigl findet seine Anregungen unter anderem in der individuellen Wahrnehmung des banalen Alltag in der Großstadt. Er richtet sein Interesse nicht sosehr auf die emotionale Ladung des Bildes, er verleiht seinen Gemälden einen inspirierenden Kommentar. Für ihn ist die Großstadt ein unerschöpfliches Reservoir an Bildern, Mentalitäten und Möglichkeiten. Er will Gemälde machen, die die täglich erlebten Vorgänge auf der Leinwand eingebrannt werden, dazu verwendet er einen klaren und erkennbaren Malstil. Es ist auffallend, das Martin Veigl sich in seinen städtischen Perspektiven mit dem fotografischen und filmischen Blick auseinandersetzt. Seine Art des Schauens ist sowohl durch die Ruhelosigkeit der Stadt wie auch der speziellen Dynamik der Großstadtraumes beeinflusst. Die aktuellen Gemälde sind geprägt von einer hohen Komplexität, thematisieren Scheinwelt und Statussymbole.
Aus dem Bewusstsein vieler künstlerischer Stile und Handschriften heraus entwickelt Veigl eine vollkommen eigene Bildsprache, die besondere Phänomene der Urbanität wie Hektik, Dynamik, Stress, Isoliertheit, Anonymität aufgreifen. Die Wahrnehmungspsychologie hat schon längst den Beweis erbracht, dass der Mensch nur das „sieht“, was er auf Grund seiner physiologischen Voraussetzungen sehen kann, und was er auf Grund der individuellen kulturellen Prägung sehen will. Wahrnehmung ist ein konstruktiver Prozess und als solcher immer ein selektiver Vorgang. Angesichts der unendlichen Flut von wechselnden Bildern auf der Netzhaut der Augen ist die menschliche Wahrnehmung darauf angewiesen, in der Umwelt Konstanz, sogenannte invariante Elemente zu erkennen und zu bestimmen.
Seit mehreren Jahren arbeitet Martin Veigl an einer größeren Werkgruppe, die er unprätentiös unter dem Begriff „urban theater“ zusammenfasst. Er setzt sich mit einem Motiv auseinander, welches in unserem Alltag eine enorme Präsenz hat. Bilder werden in unterschiedlicher medialer Ausdrucksweise generiert. Sie durchdringen den Alltag und prägen so entscheidend unsere Vorstellung von der Wirklichkeit. Mit Bildern aus dem urbanen Raum sind wir dauernd konfrontiert: Bahnhöfe, Haltestellen, Geschäfte, Straßen. Die Stadt existiert in unserer Vorstellung als Gefüge von determinierten Zeichen. Martin Veigl lotet das Spannungsfeld zwischen einer selbstreflexiven malerischen Praxis und einer Malerei, welche einer Dokumentationsfunktion verpflichtet ist, neu aus; Grenzen werden ausgereizt, um ein Bild zwischen den beiden Ausprägungen fluktuieren zu lassen. Diese Malerei zielt weder auf die Abbildung einer topografischen Wirklichkeit, noch auf den Ausdruck persönlicher Gefühle oder Empfindungen. Vielmehr beharren sie auf ihrer eigenen Visualität, von der nichts Erzählerisches ablenkt. Veigls Perspektiven der Urbanität beleuchten facettenreich und entziehen sich einer schnellen Sinnstiftung. Sie stellen Fragen der Wahrnehmung, provozieren ein assoziierendes, das Sichtbare fortsetzende Sehen.
DDr. Leopold Kogler, 2013